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Hier demnächst auch live:
Gedichte sind in aller Regel eher kurze Texte, die sich durch deutliche Zeilenbrüche auszeichnen. Gemeinhin gelten sie als Texte, die zu entschlüsseln, zu „interpretieren“ sind, oder in die man sich mehr hineinspüren als hineindenken können muss. Grundsätzlich gilt im Umgang mit Lyrik das, was für den Umgang mit allen literarischen Texten gilt: Es gibt kein richtig und kein falsch. Die Verbindung jedes/r Lesers/in mit jedem Text ist privater, intimer Natur. Andererseits zeigt es sich, wie viel Arbeit Schriftsteller*innen in ihre einzelnen Gedichte stecken (manchmal über Jahre), wie viel Absicht sie deshalb auch mit ihren Texten verbinden. Der kühne Geniestreich des einmaligen Wurfs ist eher selten.
Deshalb ist es eine große Herausforderung und zugleich Freude, sich mit Gedichten auseinanderzusetzen – und dem was die Dichter*innen in sie hineinpraktizieren. Es ist wie Detektivarbeit. Und doch liegt in den Texten meistens alles offen da; man muss nur genau hinschauen, genau hineinlesen. Schicht um Schicht werden so Botschaften deutlich, die da hineingepackt sind wie Mitteilungen über die Menschheit in der Raumsonde Voyager 1 (was dann auch schon wieder eine Metapher ist).
Ich habe in meinen Veranstaltungen zu einzelnen Autor*innen und ihren Gedichten in Theatern zusammen mit dem Publikum solche Inhalte von Lyrik herausgefieselt; dieses Vorgehen hat sich als durchaus publikumsträchtig erwiesen – schlicht, weil es allen Spaß macht. Hier veröffentliche ich in Zukunft in loser Folge Beispiele, wie so eine Gedichtbetrachtung gehen könnte. Und wie gesagt: Falsch oder richtig gibt es da nicht! Es geht los mit:
Oskar Loerke: Ans Meer
Der Nebel reißt, der albisch kroch
Aus meinem Blut zum Totenfeld:
Ein Morgen scheint ins Wolkenloch
Hoch auf die Welt.
Das Leben kommt von weitem her.
Und es geschieht, was einst geschah?
Mit ihrer Wäsche fährt ans Meer
Nausikaa.
Ein Weg weist nach Byzanz und Rom,
Für mich betritt ihn der Barbar.
Im Stein verwittert schon am Dom
Sein Mund, sein Haar.
Doch wann bin ich? Der Morgen währt,
Ein Rauschen ruft, ein Meer ist nah –
Ans Meer mit ihrer Wäsche fährt
Nausikaa.
Oskar Loerke lebte von 1884 bis 1941. Dieses Gedicht entstammt dem 1930 erschienenen Buch „Atem der Erde“. Loerkes Lyrikstil wird zwischen Expressionismus und Magischem Realismus angesiedelt. Magischer Realismus: Hinter der Wirklichkeit schillert die Magie von Mythen, von alten Zeiten durch.
Das wirkt schon auf den ersten Blick auch in vorliegendem Gedicht ein bisschen so. Ein alter Mythos: Das bringt uns schon einmal einen kleinen Hinweis auf eines der ganz zentralen Wörter in diesem Text.
Was springt da ins Auge und wie springt es ins Auge, als ob’s ein zentraler Schlüssel wäre?
Der Nebel reißt, der albisch kroch
Aus meinem Blut zum Totenfeld:
Ein Morgen scheint ins Wolkenloch
Hoch auf die Welt.
Das Leben kommt von weitem her.
Und es geschieht, was einst geschah?
Mit ihrer Wäsche fährt ans Meer
Nausikaa.
Ein Weg weist nach Byzanz und Rom,
Für mich betritt ihn der Barbar.
Im Stein verwittert schon am Dom
Sein Mund, sein Haar.
Doch wann bin ich? Der Morgen währt,
Ein Rauschen ruft, ein Meer ist nah –
Ans Meer mit ihrer Wäsche fährt
Nausikaa.
Zum Ende der ersten Hälfte des Gedichts (Vers 8) und zu seinem Ende (Vers 16), also möglichst auffällig platziert und deshalb ganz bestimmt nicht zufällig (nichts an einem guten Gedicht ist zufällig), drängt sich ein Name auf, unterstrichen zusätzlich, weil er einzeln abgesetzt ist: Nausikaa.
Nausikaa ist eine uralte, mythische Figur aus griechischen Legenden, u.a. bei Homer: eine Königstochter der Phäaken, die sich dadurch auszeichnet, dass sie eines Tages beim Wäschewaschen am Meer Odysseus am Ende seiner Irrfahrten aufliest (und rettet). Sie fährt zum Meer (so auch der Titel des Gedichts) und begibt sich somit somit ganz zentral in die Mitte des Gedichts. Unveränderlich ist diese Position an den besagten zentralen Stellen des Textes. Das muss etwas zu bedeuten haben.
Nur: Was?
Schauen wir uns zur Beantwortung dieser Frage an, wie Oskar Loerke unmittelbar vor der Namensnennung Nausikaa zwei Mal einführt, in den dritten Versen der Strophen 2 und 4:
Der Nebel reißt, der albisch kroch
Aus meinem Blut zum Totenfeld:
Ein Morgen scheint ins Wolkenloch
Hoch auf die Welt.
Das Leben kommt von weitem her.
Und es geschieht, was einst geschah?
Mit ihrer Wäsche fährt ans Meer
Nausikaa.
Ein Weg weist nach Byzanz und Rom,
Für mich betritt ihn der Barbar.
Im Stein verwittert schon am Dom
Sein Mund, sein Haar.
Doch wann bin ich? Der Morgen währt,
Ein Rauschen ruft, ein Meer ist nah –
Ans Meer mit ihrer Wäsche fährt
Nausikaa.
Was fällt hier auf?
Auffällig ist, dass zwar zwei Mal ganz genau der selbe Sachverhalt geschildert wurde, aber zwei Mal mit leicht veränderter Wortstellung. „Mit ihrer Wäsche fährt ans Meer“ und „Ans Meer mit ihrer Wäsche fährt“. Wieso steht da nicht zwei Mal derselbe Satz?
Stellen wir uns einmal kurz das Meer und die Situation vor: Nausikaa geht ans Meer, um zu waschen. Welle um Wellte bricht sich am Ufer. Es ist immer der selbe Vorgang. Welle um Welle. Aber nie ist eine Welle so ganz gleich der anderen. Jede ist ein bisschen anders. So wie die beiden Verse: Im Satzbau sind sie ganz leicht anders. Wir ertappen hier also das scheinbare Gleichmaß bei seiner subtilen Ungleichmäßigkeit.
Und wofür stehen diese Wellen, wofür steht diese Ungleichmäßigkeit?
Dafür kann man sich wiederum die Zeilen davor anschauen. Also die jeweils zweiten Verse in Strophe 2 und 4, die sich auch strophenübergreifend als Reimpaare aufeinander beziehen:
Der Nebel reißt, der albisch kroch
Aus meinem Blut zum Totenfeld:
Ein Morgen scheint ins Wolkenloch
Hoch auf die Welt.
Das Leben kommt von weitem her.
Und es geschieht, was einst geschah?
Mit ihrer Wäsche fährt ans Meer
Nausikaa.
Ein Weg weist nach Byzanz und Rom,
Für mich betritt ihn der Barbar.
Im Stein verwittert schon am Dom
Sein Mund, sein Haar.
Doch wann bin ich? Der Morgen währt,
Ein Rauschen ruft, ein Meer ist nah –
Ans Meer mit ihrer Wäsche fährt
Nausikaa.
In der vierten Strophe noch einmal eine Bestätigung der Meeresbewandtnis, mit Rauschen, Meeresnähe. Man kann das Gedicht hernehmen und sich einspüren, wie es ist, dort zu stehen: Jede Welle beschreibt, wie gesagt, denselben Vorgang, aber keine ist der anderen gleich, jede ist in sich anders, wie die Sekunden, wie die Minuten: So vergeht die Zeit. In der zweiten Strophe wird die zentrale Frage angesichts dieser Meeres- und Wellenmetapher gestellt: „Und es geschieht, was einst geschah?“ Kann das sein? Geschieht stets dasselbe? Oder ist wie jede Welle auch jedes Geschehen immer anders und neu?
Das Gedicht selbst gibt die Antwort auf diese Frage. Dazu können wir nun die Strophen eins und drei genauer ins Auge fassen. Hier taucht neben Nausikaa, das offenbar zeitlose, unberührte und unberührbare Zentrum des Gedichts, noch eine zweite Figur auf.
Der Nebel reißt, der albisch kroch
Aus meinem Blut zum Totenfeld:
Ein Morgen scheint ins Wolkenloch
Hoch auf die Welt.
Das Leben kommt von weitem her.
Und es geschieht, was einst geschah?
Mit ihrer Wäsche fährt ans Meer
Nausikaa.
Ein Weg weist nach Byzanz und Rom,
Für mich betritt ihn der Barbar.
Im Stein verwittert schon am Dom
Sein Mund, sein Haar.
Doch wann bin ich? Der Morgen währt,
Ein Rauschen ruft, ein Meer ist nah –
Ans Meer mit ihrer Wäsche fährt
Nausikaa.
Meinem? Mich? Wer ist das? Wer ist dieses lyrische Ich?
Es könnte, das wäre ja naheliegend, Odysseus sein. Dafür spricht beispielsweise ein derart dunkel-unklares, archetypisch wirkendes Wort wie albisch, das in ferne Vergangenheiten (könnte albanisch heißen, oder auf das gälische Wort für Schottland Alba verweisen, oder mit Elben/Elfen Verbindung haben) verweist. Zugleich wirkt dieses Ich aber auch irgendwie zeitlos, über oder eher: neben den Dingen stehend. Fest steht: Was über dieses Ich gesagt wird, wirkt zunächst einmal rätselhaft. Das Ich wird keineswegs klar umrissen. Und weckt so Interesse: Denn es steht offenbar in einem Spannungsfeld. Zwei große Gegensätze beschreibt dieses Feld in den ersten fünf Versen.
Welche das sind?
Der Nebel reißt, der albisch kroch
Aus meinem Blut zum Totenfeld:
Ein Morgen scheint ins Wolkenloch
Hoch auf die Welt.
Das Leben kommt von weitem her.
Das Ich ist angesiedelt im größtmöglichen Spannungsfeld des Daseins, nämlich zwischen dem Tod und dem Leben, zwischen Blut und Welt, und weiß sich selbst darin erst einmal gar nicht genau anzusiedeln. Dem Tod und dem Leben sind zwei atmosphärische, metereologische Grundstimmungen beigeordnet, die durchaus auch mit raschem Wetterwechel am Meer übereinstimmen können.
Es sind:
Der Nebel reißt, der albisch kroch
Aus meinem Blut zum Totenfeld:
Ein Morgen scheint ins Wolkenloch
Hoch auf die Welt.
Das Leben kommt von weitem her.
Der Nebel, der da kroch, und das Hoch, das die Wolken aufreißen lässt und die Morgensonne durchlässt; der Nebel ist – grammatikalisch hoch komplex (und schwer zu durchdringen, wie er halt so ist, der Nebel) dem Tod beigeordnet, das Hoch dem Leben. Das liegt ganz nah beim Empfinden vieler Menschen. Ganz offenbar ist in diesen fünf Versen auch ein zeitlicher Verlauf vorgegeben: Die Todesnähe scheint vorbeizugehen, und es beginnt ein (neues?) Leben für das Ich. Dies unterstreicht noch der öffnende Doppelpunkt nach dem zweiten Vers: ein Durch- und Aufatmen. Nur ist diese Hoffnung sehr unbestimmt, sie „kommt von weitem her“.
In der dritten Strophe geht diese Unbestimmtheit weiter.
Welche zentralen Wörter fallen denn dort auf?
Wir nennen zuerst Substantive wie
Ein Weg weist nach Byzanz und Rom,
Für mich betritt ihn der Barbar.
Im Stein verwittert schon am Dom
Sein Mund, sein Haar.
Wie wirken diese Wörter?
Wenn man sie hintereinander her sagt, haben sie allesamt den Ruch des Historischen: Byzanz und Rom, Zentralorte alter, untergegangener Reiche, der Barbar als wilder Feind dieser alten Staaten, dazu Stein und Dom, diese festen Kathedralen der Religiosität, seit Jahrhunderten da stehend, unbewegt, aus der Zeit gefallen. Alles hier atmet Vergangenheit.
Daneben aber stehen Verben wie
Ein Weg weist nach Byzanz und Rom,
Für mich betritt ihn der Barbar.
Im Stein verwittert schon am Dom
Sein Mund, sein Haar.
Und wie wirken wiederum diese?
Weisen, betreten, verwittern: Alles drei Tunworte, Worte der Tätigkeit, als würde sich etwas bewegen, als schreite etwas fort. Hier treffen also Satzkomponenten des Tätigseins auf solche der Starre und Statik und bewirken einen starken Kontrast zwischen Werden und Vergehen. Aber in dem steinernen Umfeld, in diesem Erstarren, hat sich das Werden in Gewordensein verwandelt, ist abgestorben, ist eingegangen in eine abgeschlossene Vergangenheit. Aus der das lyrische Ich deshalb ausgeschlossen bleibt: Er ist dort nicht selbst, sondern hat nur einen Stellvertreter („für mich“), der womöglich für irgend eine alte Rolle des Ich steht (z.B. der Ex-Krieger Odysseus als „Barbar“). Jedenfalls befinden sich hier ausschließlich Figuren aus der Vergangenheit in einer Vergangenheit, in der selbst Bilder eines einst blühenden Lebens – der Mund, der spricht, das Haar, das wächst – versteinert sind. Wir haben also:
Strophe 1: unklare Zukunft (für das Ich)
Strophe 3: versteinerte Vergangenheit (für das Ich), das sich jetzt die zentrale Frage des Gedichts stellt:
Der Nebel reißt, der albisch kroch
Aus meinem Blut zum Totenfeld:
Ein Morgen scheint ins Wolkenloch
Hoch auf die Welt.
Das Leben kommt von weitem her.
Und es geschieht, was einst geschah?
Mit ihrer Wäsche fährt ans Meer
Nausikaa.
Ein Weg weist nach Byzanz und Rom,
Für mich betritt ihn der Barbar.
Im Stein verwittert schon am Dom
Sein Mund, sein Haar.
Doch wann bin ich? Der Morgen währt,
Ein Rauschen ruft, ein Meer ist nah –
Ans Meer mit ihrer Wäsche fährt
Nausikaa.
Wann bin ich?
In diesem unklaren Sein zwischen Vergangenheit und Zukunft, wo ist da die Position dieses Ich? Die Antwort liegt im Schlüssel, der uns als Leser*innen schon am Anfang in die Hand gedrückt worden ist: in der Figur der Nausikaa, die sich da, ganz in die Gegenwart vertieft, in den immergleichen Wellengang der Zeit begibt. Sie ist die Figur, um die sich als Narbe des Gedichts die ganzen Zeitfragen gedreht haben. Sie ist der Mittelpunkt, um den herum es sich reimt und denkt. Von ihrer stillen Präsenz in der Gegenwart ist das Ich jetzt ganz und gar nicht mehr weit weg:
Doch wann bin ich? Der Morgen währt,
Ein Rauschen ruft, ein Meer ist nah –
Ans Meer mit ihrer Wäsche fährt
Nausikaa.
Aus dem Nebel in die Klarheit: Dies ist die Bewegung des Denkens eines lyrischen Ich, das lernt, sich auf die Gegenwart ein- und von der Unsicherheit der Zukunft und der nachherigen Unabänderlichkeit der Vergangenheit abzulassen. Dieses Dasein im Augenblick ist Ziel der Reise. Im permanenten sich Ändern der Zeit tut man gut daran, sich intensiv auf die Gegenwart einzulassen.
Ob dieses Ich nun Odysseus ist, der sich nach seiner (wohl alsbald erfolgenden) Rettung durch Nausikaa in seiner Gegenwart wiederfindet oder ob das Ich viel abstrakter ist, darf jede*r für sich entscheiden und weiterdenken. Einen Denkansatz hat auch die Literaturzeitschrift „Akzente“ geliefert, die dieses Gedicht im Jahr 1954 ganz programmatisch als ersten Text ihrer Schriftenreihe neu veröffentlicht hat.
Was halten Sie von dem Gedicht? Was ist Ihnen im Text aufgefallen? Welche Interpretationsansätze haben Sie? Schreiben Sie mir gerne unter kontakt@christian-muggenthaler.de